Sonntag, 3. Januar 2010

Lutz - ein Dichter und Denker

EIN FREMDER IST NAH. KEIN KNECHT IST FERN.
NICHT JEDER FREMDE IST GROSS. NICHT JEDER FREUND IST FREI.
NICHT JEDER TAG IST OFFEN. NICHT JEDER WEG IST WÜTEND.
JEDES BILD IST WÜTEND. EIN TAG IST FREI.
NICHT JEDES AUGE IST NAH. KEIN TISCH IST SPAET.
EIN HAUS IST VERGANGEN. NICHT JEDES HAUS IST SO ACH.
NICHT JEDER TISCH IST STILL. EIN TURM IST SCHMAL.
NICHT JEDER BAUER IST TIEF. EIN HAUS IST VERGANGEN.
NICHT JEDER FREMDE IST SPAET. EIN DORF IST TIEF.
NICHT JEDES WINDKIND IST STILL, SO GILT NICHT JEDES WINDKIND IST WÜTEND.
KEIN TURM IST OFFEN. NICHT JEDES HAUS IST WÜTEND.
KEIN FREMDER IST WÜTEND, SO GILT JEDES DORF IST FREI.
JEDER TURM IST SCHMAL ODER NICHT JEDER KNECHT IST TIEF.
EIN FREMDER IST VERGANGEN, SO GILT KEIN FREMDER IST SO ACH.
EIN FREUND IST OFFEN. JEDER TURM IST DUNKEL.


Diesem einzigartigen Stück Poesie, gebührt ein fester Platz in unserer Literaturgeschichte. Ja, die vorliegenden Zeilen waren bahnbrechend. Sie schlugen ihre Wellen über den Erdball, überraschten und verzückten seither Hunderttausende. Wer den Autor nicht kennt, tippt vielleicht auf Kafka. Die Richtung stimmt; surreal, impressionistisch, ein bisschen Dada und beatpoetry. Ein Freund, ein Haus, ein Turm; es sind Symbole der menschlichen Nachhaltigkeit. Aber unser Autor kontrastiert sie. Der Turm ist nicht nur das Symbol der Festigkeit, der Schutzwall gegen unseren Feind, er bleibt uns dunkel und fremd. Und auch diese Zeilen wollen nicht richtig zu uns vordringen. Es bleibt eine kühle unscheinbare Distanz, die Leere eines vergangen Fremden.
Das vorliegende Gedicht stammt vom genialen "Lutz", ein Computerprogramm, das 1956 am MIT programmiert wurde. Es verknüft beliebige Substantive mit ebenso beliebigen Adjektiven zu einem Gedicht. Wer Interesse hat, kann hier selbst die Variablen einfügen und einen stochastischen Text erzeugen lassen. Viele dieser Innovationen haben die emotionaleren Gemüter unter uns, auch unter den Philosophen, aufschrecken lassen. Man hatte Angst, nach dem Rechnen würde nun auch das Handwerk der Kunst veräußert. Und schlussendliche können dieses verdammten Maschinen alles, was zwei Jahrtausende den Menschen vorbehalten war. Ohne zu merken, dass man ihnen doch nur zeigt, wie sie am ehesten zu Menschen werden. Man lässt sie den Menschen gleich werden. Nicht sie selbst werden menschlicher, der Mensch versucht sich mit möglichst vielen menschlichen Eigenschaften auszustatten. Das ist nun wirklich keine Kränkung, auch wenn viele das so empfinden. Die Debatte steckt voller Äuquivokationen. Hier werden Algorithmen mal mit Bewusstseinen gleichgesetzt und stochastisches Dichten mit Denken, Intelligenz mit Geist, Kognition mit Reflektion.
Die künstliche Intelligenz nimmt uns soviel ab, wie wir möchten, dass sie das tut. Wenn die Maschinen über uns herrschen, können wir getrost seien, dass wir sie nach unserem Ebenbild geschaffen haben, was keine schlechte Aussicht ist.

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